Schöner Wohnen in Tübingen
Architekturvisionen von 1900 bis heute in der Kunsthalle Tübingen
Architektur – mehr als Beton, Stahl und Ziegel. Sie entscheidet, wie wir leben, fühlen und wer wir überhaupt sind. Kein Wunder, dass Künstler u. Künstlerinnen, Architekten u. Architektinnen ihre großen Visionen zuerst auf Papier bringen. Aber Achtung: Diese Zeichnungen sind viel mehr als bloße Skizzen oder Baupläne. Sie sind kleine Zeitmaschinen, die Haltung, Ideen und den Zeitgeist einfangen. Oder, um es mal frech zu sagen: Die Tinder-Profile der Architektur.
Die Kunsthalle Tübingen nimmt sich genau dieser kleinen Wunderwerke an – als eigenständige Kunstform der letzten hundert Jahre. Gezeigt werden Entwürfe, Modelle, Skulpturen und Raumkonzepte, die verdeutlichen, wie gesellschaftlicher Wandel und technische Neuerungen Wohnträume und Stadtvisionen beeinflusst haben. Moderne Architekten denken längst nicht mehr nur an die eigenen vier Wände, sondern werfen den Blick raus ins urbane Miteinander – raus aus dem Wohnzimmer, rein ins Stadtleben. Kunstvermittlerin Gabi Eisensteck-Heller hat die Exponate den Besucherinnen und Besuchern der SportKultur-Abteilung Kunst&KulTouR fundiert mit viel Herzblut nahegebracht.
Der Parcours ist eine wilde Zeitreise: Von expressionistischen Utopien einer naturverbundenen Weltarchitektur wie das großformatige Wolkenschloss von Wenzel Hablik von 1917 über funktionalistische und konstruktivistische Wohn- und Stadtkonzepte der Bauhaus-Protagonisten aus den 1920ern, die futuristische Science-Fiction-Architektur der 1960er bis hin zu den experimentellen Anti-Utopien der Nachkriegszeit und Postmoderne. Die philosophische Einschätzung: „Utopie ist eine Utopie“ kommt einem beim Ausstellungsrundgang nicht nur einmal in den Sinn. Manche Entwürfe sind so kühn, dass man sofort an die Band „Einstürzende Neubauten“ und ihren Song „Haus der Lüge“ denkt – Visionen, die garantiert aus technischen Gründen nie hätten gebaut werden können oder im schlimmsten Fall krachend in sich zusammengefallen wären.
Heute ist vieles digital: Handzeichnungen sind selten geworden, seit den 1990ern dominieren Computer, und KI mischt kräftig mit. Die große Frage bleibt: Wie wollen wir eigentlich in der Stadt der Zukunft leben? Studentische Entwürfe und das Projekt von Amelie Weyers liefern darauf kreative, zeitgemäße Antworten – mal nachdenklich, mal augenzwinkernd, wie Architektur im Dialog mit Musik.
Als Sahnehäubchen gibt’s eine Original-Kapsel des legendären Nakagin Capsule Towers von Kishō Kurokawa. Nach dem Abriss 2022 des ikonischen Gebäudes in Tokio zeigt die Kunsthalle als einzige Institution in Deutschland dieses Wohnmodul im Skulpturenhof – zum Staunen, Anfassen und ganz nebenbei: ein kleines Stück Zukunft zum Greifen nah.
Also: Helm auf, Augen auf, Fantasie an – und vielleicht im Geiste ein bisschen „Neubauten“ aufdrehen. Denn ein „Haus der Lüge“ ist manchmal genau das, was man für große Ideen braucht.
Text und Fotos: Norbert Klotz